Theater der Zeit
Heft 5 2014
Get up, stand up
Gehen oder bleiben? Wie zwei Dokumentartheaterprojekte in Sofia die gesellschaftliche Realität ihres Landes auf die Bühne bringen
Sofia, 1. März 2014. Es ist der Tag von Baba Marta, Großmutter März: der bulgarische Lenz. Überall in der Stadt stehen Stände mit kleinen rot-weißen Martenizi, das sind Armbänder, Anhänger oder kleine Püppchen, sie kosten wenige Stotinki, man schenkt sie Familie und Freunden. Talismane für Gesundheit – rot steht für rote Wangen, weiß für weißes Haar. Das lange, gesunde Leben. Entdeckt man ein erstes Frühlingszeichen, einen blühenden Baum oder eine Schwalbe, hängt man sie an einen Ast oder legt sie unter einen Stein. Und wünscht sich etwas Schönes.
Viele Wünsche hängen im März in den Ästen von Sofias Bäumen.
„Was ist der schmerzvollste Punkt, mit dem du in deinem Land zu ringen hast?“, fragt Irina Andreeva, Schauspielerin und Autorin. Einige Mitglieder der Theatergruppe Replica sitzen mit ihrem Regisseur Georg Genoux bei süffigem Rotwein in einem urigen Verschlag beieinander – angeblich die Sofioter Lieblingskneipe von Dimiter Gotscheff –, eher eine dunkle Höhle, verraucht und kerzenerleuchtet, man glaubt es sofort. Was am meisten schmerzt? Die Antwort ein Schweigen. Alles, was sich jetzt sagen ließe über den Zustand Deutschlands, seine ganz eigenen Wunden, die Nöte, scheint nichtig, belanglos.
Jedenfalls jetzt und hier, in Sofia, Bulgarien, nach der Vorstellung des Dokumentartheaterstücks mit dem Titel „Wir sind der Müll aus Osteuropa“, gefördert vom dortigen Goethe-Institut. Das Stück ist die Fusion zweier Theaterabende. Der erste, „Müll“, entstand schon 2013, der zweite, „Der Auszug“, Anfang dieses Jahres. Die sehr persönlichen Geschichten der Schauspieler oder ihrer nahen Bekannten erzählen nicht nur etwas über die gesellschaftliche Realität in Bulgarien, sondern auch über die feindselige westeuropäische Mentalität. Und es ist der Versuch, noch einmal an 2013 anzuknüpfen, das Jahr der Aufstände, in dem die massiven Bürgerproteste in Bulgarien zu einer neuen Regierung führten (siehe TdZ 10/2013), nur dass diese, wie man heute sieht, nicht besser ist als die alte. Das Grundproblem sei, sagt Irina, dass Bulgarien im Gegensatz zu Polen oder Tschechien keine Revolution gegen das kommunistische System gehabt habe. Dieselben autoritären, mafiösen Verbrecher regieren das Land und demütigen das Volk.
In „Müll“ stehen die Schauspieler in gewisser Weise stellvertretend für alle diejenigen auf der Bühne, deren Demütigung besonders groß ist, weil ihre Lebensrealität darin besteht, von den Abfällen anderer zu leben. Auf Sofias Straßen sieht man auffällig viele an der untersten Armutsgrenze, die so ihren Tag verbringen müssen. Ina Georgieva stellt ein erstaunlich klingendes aus Müll gebautes Musikinstrument vor, mit dem sie ihren Gesang begleitet: „I got no job, I got no money. I have to leave.“
„Armutsmigranten“, „Sozialtourismus“, „Elendseinwanderung“. Seitdem das Freizügigkeitsabkommen ab dem 1. Januar 2014 auch für Bulgaren und Rumänen gilt, hat Westeuropa Angst vor einer Überflutung seiner Sozialsysteme. Rassistische Klischees und Stereotype werden produziert, die Bedrohung sei nicht nur finanzieller Art, sondern auch gesellschaftlicher. „Wer betrügt, der fliegt!“, sagt Horst Seehofer. Wegen der Diskriminierung allein aufgrund der Herkunft geben sich viele Bulgaren im Ausland als Spanier oder Italiener aus. Etwa der Freund, von dem Milko Jovchev erzählt, der sich nach der Ausreise Tiago de la Roche nannte, um überhaupt eine Chance auf Arbeit zu haben. Von den Migranten aus Osteuropa handelt dann also der zweite Teil des Abends. Darin erzählt Irina wütend und kraftvoll ihre eigene Geschichte: wie sie als Schauspielerin die Möglichkeit gehabt habe, für ein festes Engagement und gute Bezahlung nach Italien zu gehen. Sie ist geblieben und muss für den kläglichen Lebensunterhalt in einem Fitnessstudio putzen gehen; auf ihrem MP3-Player hört sie dabei „Santa Lucia“. Warum in die Ferne gehen, wenn man sich dann immer nur nach der Heimat sehnt? Wer kämpft den Kampf, wenn die wütende Jugend das Land verlassen hat? „Get up, stand up“, singt das Ensemble am Ende des Abends. Zumindest das Publikum im Red House – Center for Culture and Debates „Andrej Nikolov“ steht wieder auf.
Doch sind es eben nicht nur die Jungen, die seit nunmehr fast einem Jahr mit großer Beharrlichkeit die Proteste in Bulgariens Hauptstadt am Laufen halten. Auch wenn diese Märsche mit ihren brennenden Fackeln, dem vors Parlament gerollten Stinkefinger und den süffisant lächelnden Polizisten fast schon wie einstudiert wirken. Gerade deshalb ist das Projekt „Protest“ der Dokumentartheatergruppe Vox Populi um Regisseurin Neda Sokolovska so brisant. Wie unter einem Brennglas werden hier die aktuellen Ereignisse mit den Mitteln des Verbatim-Theaters – also mittels Texten, die aus den Medien und selbstgeführten Interviews generiert werden – analysiert, kommentiert bzw. schlicht überhaupt erst sichtbar gemacht.
In einer Aufführung Ende Dezember zum Beispiel, „Protest.mp3“, ging es um die Besetzung der Universitäten. Schlafsäcke werden gezückt, Zeitungsartikel ausgeschnitten, Plakate gemalt. Einer schließt die Tür ab – und im nächsten Moment stehen sie auch schon auf den Tischen. „Give Peace a Chance“ singt ein Typ, während er sich rhythmisch auf seinen bis zur Unterhose entblößten Hintern schlägt. Plötzlich flackert ein Bild über die Leinwand, ein älterer Herr in Shorts am Strand. „Ein Vertreter der Regierungspartei Ataka, die gerade als in Sofia über den maroden Haushalt debattiert wurde, mal eben nach Kuba jettete“, erklärt Neda Sokolovska mit spürbarem Zorn. Und dieser Zorn treibt sie an. „Protest“ ist eine sich ständige wandelnde, mit den Ereignissen sich fortwährend erneuernde Produktion. Ein aktivistisches Forum, in dem sich Schauspieler wie Zuschauer über die politischen Missstände in ihrem Land verständigen. Denn aufs Wünschen allein setzt hier keiner.
Mirka Döring und Dorte Lena Eilers