Gedächtnisdrama oder Im Theater öffnet sich der Vorhang der Vergangenheit Von Georg Genoux Idee Die Arbeit an einem Heilungsprozess kann individuell, aber auch kollektiv wirksam sein und ist für die heutige russische Gesellschaft, die nach dem Zerfall der Sowjetunion in einen posttraumatischen Zustand geraten ist, vordringlichste Aufgabe. Und damit auch die des Theaters. Der Theaterkritiker und mein Kollege Pavel Rudnev hat sie “Drama Pamjati” (Gedächtnisdrama) genannt. . In Russland sind die aktuellen Fragen nur mit einer ganz starken Geschichtsaufarbeitung anzugehen. Man muss das Fundament bearbeiten, sonst funktioniert es nicht. Projekte Pavlik ist mein Gott Co-Produktion mit dem Joseph Beuys Theater Moskau. Premiere 2010 im Kulturzentrum Fabrika in Moskau. Das Pilotprojekt der Idee Gedächtnissdrama ist ”Pavlik ist mein Gott” von Nina Belenitzkaya und Jewgeni Grigorev. Sie arbeiteten mit dem Motiv von Joseph Beuys, das in fast allen unseren Arbeiten zentral ist: „Zeige Deine Wunde, dann wirst Du geheilt, wenn Du Deine Wunde nicht zeigst, wirst du nicht geheilt.“ Hier zeigte sich einmal mehr, dass die Verarbeitung von Existenzfragen, die Überwindung von Krisen, der entscheidende Motor in der Kunst ist. Nina Belenizkaja, eine der Autorinnen von ‹Demokratie.doc›, versuchte seit Jahren in ihren Stücken zu verarbeiten, dass ihre Familie über Nacht von ihrem Vater verlassen wurde – während einer Zeit, als ihre kleine Schwester sehr schwer krank war. Und es gab nie eine Erklärung dafür. Sie hegte lange sehr starke Rachegefühle gegen ihren Vater. Irgendwann hat sie die Geschichte von Pavlik Morosow entdeckt, der in der Sowjetunion als der Prototyp des Vaterverräters galt. Und sie hat sich dann gesagt, idaß sie wie dieser Pavlik werden müsse. Sie wollte ihren Vater anzeigen, da sie Beweise für Bestechlichkeit und Schmiergeldzahlungen hatte. Darüber wollte sie ein Stück machen. Das führte im Rahmen eines Theaterlaboratoriums zum Streit mit einem jungen Regisseur, Jewgeni Grigorjew, dessen Lebensgeschichte mit der von Pavlik Morosow dadurch zu tun hat, dass er im gleichen Dorf geboren wurde und dort in eine Schule ging, die seinen Namen trägt. Er sagte zu Nina, sie wisse ja überhaupt nicht, worüber sie schreibe. Die Sache ist ja die, dass Pawlik in diesem Sinne gar kein Verräter war, er wurde nur von der sowjetischen Propaganda dazu gemacht – nach seinem Tod. Aus diesem Streit ist die Idee zum Stück entstanden, bei dem Jewgeni Regie führte. Das Stück ist eigentlich eine Art ‹Roadmovie›, in dem Nina, beziehungsweise die Heldin des Stücks, Tanja, zum Denkmal von Pavlik fährt. Das Denkmal erwacht und sie versucht einen Workshop bei ihm zu nehmen, wie man jemanden verraten kann. Dabei findet bei ihr eine innere Veränderung, eine Veränderung im Denken statt.
Die Begegnung hat für Tanja/Nina eine heilende Wirkung, als der Regisseur Gegenwart und Vergangenheit auf explosive Weise konfrontiert. In dieser Arbeit geht es um Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung der eigenen Geschichte im Kontext der Geschichte des Systems in dem Nina Belenitzkaya lebt. Wichtig war auch, dass sich durch diese Arbeit eine für mich sehr beeindruckende Persönlichkeit - Jewgeni Grigorev - zum Theaterregisseur entwickeln konnte.
Als Dokumentarfilmer hatte er noch keine Erfahrung im Theaterbereich. Ich wollte aber, dass unser Theater für genau solche Menschen wie
Jewgeni entsteht, die in ihrem Leben vielleicht nur ein einziges Theaterprojekt machen, damit aber etwas für sich und die Zuschauer Lebenswichtiges zum Ausdruck bringen. Dass der Regisseur kein Theater-Profi ist, war hier irrelevant. Die Aufgabe der Profis um ihn herum bestand darin, ihn wie eine Bienenkönigin mit allem zu versorgen, was er brauchte, um als Regisseur fruchtbar zu werden.
Unsere Inszenierung war eine Synthese aus Theater und Dokumentarfilm, die die Zuschauer in eine Art Hologramm versetzte, umgeben von Leinwänden, wo durchgehend Dokumente, eigene Filme, aber auch historische Fotografien aus Sergeij Eisensteins Film „Pavlik Morosov“ gezeigt wurden. Der Film selbst war seinerzeit verboten, wurde verbrannt, und es war fast ein Wunder, das Jewgeni diese, in Archiven versteckten Fotos für seine Inszenierung fand.
Pavlik - Mein Gott wurde 2011 als bestes Theaterexperiment des Jahres für die Goldene Maske in Moskau nominiert, erhielt 2012 den Grand Prix der Koljada Festspiele in Jekaterinenburg, erhielt den Preis für die beste Regie-Arbeit bei Festival Lesja Kurba in Harkov (Ukraina), nahm im Programm der Golden Maske in Talin und im Russian Case Programm in Moskau teil Gedächnisdrama am Andrei Sakharov Museum 2010 bis Juni 2012 haben die Teams vom Joseph Beuys Theater und Demokratie.doc im Genre “Gedächtnisdrama” mit dem Andrei Sakharov Museum zusammengearbeitet. Ich denke, deshalb war es wichtig dieses Theaterprojekt in Russland zu tun, besonders auch vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen oder parallelen Vergangenheit, die wir ja auch in verschiedenen Projekten mit dem Goethe Institut Moskau und dem Andrei Sakharov Museum (Die Last des Schweigens, Ich Anna und Helga) berührt haben, wo wir die Nazivergangenheit Deutschlands bearbeiteten, oft aber in Gesprächen mit dem Publikum die Fragen nach der sowjetischen Vergangenheit gestellt wurden. Ich Anna und Helga Bei diesem Projekt habe ich am Andrei Sakharov Museum eine Synthese aus Texten der Tagebücher der Anne Frank, den Briefen von Helga Goebbels und meiner eigenen Familiengeschichte inszeniert. Die Jüdin Anne Frank versteckt sich mit ihrer Familie und einer weiteren jüdischen Familie in Amsterdam in einem Nebenhaus des Geschäftshauses ihres Vaters vor der nationalsozialistischen Besatzung. Ihnen droht täglich der Tod, sollte man sie entdecken. Sie ist 13 als sie in das Versteck fliehen und gerade 15 als das Versteck entdeckt wird und die Bewohner in Konzentrationslagern interniert und ermordet werden. In ihren Tagebüchern schildert sie sehr deutlich, was in dem Versteck zwischen den Flüchtlingen vorgeht, wie ihr Alltag aussieht und wie sie die Angst vor der Aussenwelt, die Konflikte innerhalb der Familien und die Hoffnung auf ein Leben danach empfindet. Sie hinterlässt ein Tagebuch, der nicht nur die Tatsachen genau schildert, sondern auch eine innere Entwicklung und Wachsen von Anna bezeugt. Beklemmend beim Lesen der Tagebücher wirkt die Tatsache. dass Anna voller Lebensfreude und Willen ist, aber man doch genau weiss, dass sie einen furchtbaren Tod sterben wird. Die 12 jährige Helga Goebbels schreibt ihrem Jugendfreund Heinrich Ley, dem Sohn von Robert Ley, Liebesbriefe, die die letzten Tage ihres kurzen Lebens bezeugen. Sie erlebt mit mit ihren 5 kleinen Geschwistern im Führerbunker in Berlin den entgültigen Untergang des Naziregimes. Nach dem Selbstmord von Adolf Hitler, vergiftet Magda Goebbels, die Mutter von Helga, alle ihre Kinder mit Zyankali, dann erschiesst Joseph Goebbels seine Frau und sich selbst. Magda Goebbels: “Ich hatte meine Kinder für das dritte Reich geboren, da es dieses Reich nicht mehr gibt, soll es auch meine Kinder nicht mehr geben.” Auch Helga versucht sich die Welt zu erklären. Man spürt, dass sie unterbewusst ihren Tod ahnt. Die Motive und Probleme von Anna und Helga gleichen sich sehr; Konflikt mit den Eltern oder Umgebung, Umstellung der Lebensumstellung. Angst vor der Aussenwelt, Hoffnung auf die Zukunft, erste Liebe und vieles mehr. Aber in einem Punkt unterscheiden sich die beiden Mädchen sehr. Während Anna nicht nur das Thema Judenvernichtung durchdenkt und versucht sich diesen Krieg zu erklären, klammert Helga diese Themen völlig aus: Eine totale Verneinung der Wirklichkeit. Das Täter-Opfer Verhältnis wird so deutlich: Täter. Mittäter, Opfer. Kinder von Tätern und Opfern. Was ist Helga? Täter? Opfer? Kind von Tätern? Und damit Opfer oder Täter? Vorfahren von mir, Georg Genoux, sind väterlicherseits selbst als Verbrecher der Nazizeit entdeckt worden, Vorfahren mütterlicherseits sind wahrscheinlich jüdischer Herkunft. Den Motor der Inszenierung kann man auch nennen: "Wie könnte ich in mir vereinen gleichzeitig Enkel von Verbrechern und Opfern zu sein". So wird meine Familiengeschichte in diesem Projekt verarbeitet. Das Bedürfniss dafür hatte ich durch jahrelange Gespräche mit meinen Freunden und Kollegen Arman Bekenov und Jelena Margo entwickelt. Eine weitere Arbeit am Andrei Sakharov Museum war das Projekt Die Last des Schweigens, bei dem Arman Bekenov und ich mit dem Russischen Journalisten Michail Kaluzhkij zusammenarbeiteten, der bei diesem Projekt auch Regie führte. Die Last des Schweigens beruht auf den Protokollen von Gesprächen, die der israelische Psychologe Dan Bar On mit Kindern von Naziverbrechern geführt hat. Es geht es um die Aufarbeitung der deutschen Nazivergangenheit. Bei den öffentlichen Gesprächen nach der Aufführung sprang dann die Diskussion sofort um auf die russisch-sowjetische Geschichte. Normalerweise ist schwierig, solche Themen direkt in Russland anzugehen. Da herrscht dann eine ziemlich starke Abwehrhaltung. Aber wenn man anfängt, etwas von dir oder der Geschichte deines Landes zu erzählen, dann setzt dieser ‹Und ich›- oder ‹Bei mir›-Effekt ein. Die Leute sind dann auch eher bereit, über die Geschichte des eigenen Landes und ihr persönliches Schicksal zu sprechen. Das ist der wichtige interaktive Moment an der Inszenierung ‹Die Last des Schweigens›, weßhalb die öffentlichen Gespräche nach jeder Vorstellung auch sehr notwendig waren. Die Idee zu dem Projekt hatte der Leiter der kulturellen Programmarbeit des Goethe Institutes in Moskau Wolf Iro. Ich hatte das Projekt zuerst auf den Dokumetartheaterabenden in Teatr.doc vorgestellt, dann aber Michail Kaluzhkij ein Regie - Debüt mit dieser Idee vorgeschlagen. Ich selbst spielte die Rolle Rudolph, der Sohn eines Pfarrers in der NS Zeit, der an den Verbrechen des Regime psychisch zerbrach und bis zu seinem Tode in einer Art geistiger Verwirrung war, in der er verzweifelt Skulpturen baute, die die Versöhnung zwischen den Juden und Deutschen symbolisierten. Rudoph war in seiner Kindheit Mitglied der Hitlerjugend und glühender Verehrer des Führers. Er ignorierte die Warnungen des Vaters vor dem NS Regime. Erst nach Kriegsende begann bei Rudolph eine Bewustseinswandlung, die ihn in traumatischer From ein Leben lang begleitete. Eine Fortsetzung dieses Projektes mit dem Titel “Enkelkinder” unternahm dann 2012 Michail Kaluzhskij zusammen mit der Kuratorin der Kulturarbeit des Memorial - Zentrums Alexandra Polivanova. Hier stand die Vergangenheit der Stalin - Diktatur im Vordergrund, erzählt aus der Perspektive von Enkeln. Brisant, da es in fast allen russischen Familien gleichzeitig Opfer und Täter des Stalinsystems gibt. Usbek Projekt von Talgat Batalov am Joseph Beuys Theater und Andrei Sakharov Museum (Premiere 2012). Das Projekt wurde im Rahmen des Theaterlaboratoriums "Grenzen zerstören" entwickelt, das Pavel Rudnev, Michail Kaluzhskij und ich kuratierten. Mit Unterstützung der Europäischen Kommission. Das Monodrama "Usbek" basiert auf der persönlichen Geschichte des Autoren. Talgat Batalov emigrierte aus Taschkent in Usbekistan nach Moskau. Die sogenannten "Arbeitsimigranten" sind für ihn mehr als Menschen in orangenen Westen und dreckigen Schürzen. Die Bühnenfigur Talgat, die er geschaffen hat, kann aber kaum einen Immigranten im typischen sehen. Der Umzug nach Moskau ist für Talgat als eher eine Rückkehr in seine historische Heimat, aus der nach dem zweiten Weltkrieg seine Eltern nach Usbekistan emigriert waren. Er ist von seiner Nationailität her Russe, fühlt sich aber nicht russische, vieleicht eher als Moskauer. Aber er unterscheidet sich von den Moskauern dadurch, dass er die ZIgtausenden von "Arbeitsemigranten" aus Usbekistan in Moskau nicht als übliche Nebeneffekte einer Megapolis ansehen kann. Er hat Mitgefühl mit ihnen. Auf der Bühne sind zwei Pappkartons: In dem einen die Geschichten von Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus Mittelasien nach Russland immigrierten. In dem anderen Karton befinden sich Talgats reale Dokumente: Sein Pass, seine Arbeitserlaubniß, ein Dokument der Aufgabe der Usbekischen Staatsbürgerschaft, seine Registration. Den Zuschauern wird angeboten, sich diese Dinge genau anzuschauen: Jeder dieser Gegenstände hat eine Geschichte: Eine Schlange im Einwohnermeldeamt, eine Bestechung eines Beamten oder eine Entscheidung, die das ganze Leben veränderte. Am Ende der Inszenierung sehen wir einen Usbekischen Film aus den fünziger Jahren. Zweiter Weltkrieg. Ein etwa 9 jähriger Junge reist nach Tashkent um in einer Usbekischen Familie Unterkunft zu bekommen. Seine Familie ist im Krieg umgekommen. Der Vater der Usbekischen Familie nimmt ihn in aller Gastfreundschaft auf. Zehntausende von russischen Waisen sind in Usbekischen Familien aufgenommen und wie die eigene Kinder erzogen worden. Desshalb berührt dieser Film in der Inszenierung schmerzhaft, denn er macht hier bewusst, wie grausam und undankbar im historischen Kontext das heutige Moskau mit Usbekischen Immigranten umgehen. Aufgrund des allgemeinen Fremdenhasses in Russland und nach den Progromen gegen die Immigranten aus Mittelasien in dem Moskauer Vorort "Brjelova" im Oktober 2013 gewann die Geschichte mehr und mehr an trauriger Aktualität. Usbek wurde 2013 für die "Goldene Maske" als "Bestes Theaterexperiment des Jahres" nominiert. Gastierte auf internationalen Theaterfestivals In Warschau, Jerevan und Bratislava. Gedächtnissdrama am Memorial Zentrum "Gedächtnisdrama" haben wir auch unser gemeinsames Programm 2012/2013 mit der Menschenrechtsorganisation Memorial genannt, mit denen wir Inszenierungen über Persönlichkeiten wie Joseph Brodsky, Vaclav Havel, den russischen Philosophen Peter Tshaadaev, die Ereignisse von 1993 gemacht haben, sowie über Menschen, die auf den Listen der Erschossenen des Stalin-Regimes, der Morde des Kadirov-Regimes in Tschetschenien, standen. Ebenso haben wir uns auch mit einigen Mitarbeitern von „Memorial“ beschäftigt, die Opfer der Greueltaten der alten Regimes waren. Das Ganze war ein Programm, das 2 Jahre in Zusammenarbeit mit ‹Memorial›, Joseph Beuys-Theater, und zum Teil mit dem Interdisziplinären Programm der National Galery of Contemporary Art (NCCA) in Moskau lief. Laboratorium Gedächtnissdrama Im Juni 2012 wurde ein Laboratorium zu diesem Thema unternommen, dass ich gemeinsam mit Alexandra Polivanova kuratierte. Junge Regisseure arbeiten mit Material aus dem Archiv von Memorial, mit Texten der letzten sechzig, siebzig Jahre, die als Basis für ihre Stücke dienen sollen. Das war Geschichtsbewältigung mit sehr offenem Ergebnis. Offen im Ergebnis deshalb, weil ich das Projekt nicht aus der Position von jemandem machen wollte, der schon vorher wusste wie es inhaltlich, politisch und ästetisch gehen müsste, diese Archivtexte im Theater umzusetzen. Deshalb habe ich auch Regisseure mit ganz verschiedenen ästhetischen Ansätzen und politischen Überzeugungen ausgewählt. Die Projekte waren dann natürlich auch sehr unterschiedlich, meißt mit stark interdiziplinären Charakter. Bei diesem Projekt geht es bei der inhaltlichen Zusammenarbeit mit ‹Memorial› auch um einen alternativen Zugang zur Geschichte – im Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung! Viele Archive sind ja bis heute nicht oder nur schwierig zugänglich. Man muss zu den Betroffenen gehen, um etwas zu erfahren, quasi die Gegenarchive anzapfen. In einer Gesellschaft, in der die Medien lügen, bekommt das Theater eine ganz andere Aufgabe. Das macht es vielleicht nicht einfacher im Leben, aber es macht zumindest das Theatermachen interessanter. Es stellt sich ja immer die Frage, warum über irgendetwas geschwiegen wird. Angst In Zusammenarbeit mit dem Joseph Beuys Theater und der National Galery of Contemporary Art (NCCA) (2013). Mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung in Moskau. Angst ist ein interaktives Theaterprojekt, daß wir mit Jelena Margo und Arman Bekenov basierend auf unseren Erfahrungen mit Projekten wie Demokratie.doc in Moskau oder KRISE in Berlin entwickelten. Die moderne Moskauer Gesellschaft ist von Angst besetzt. Durch persönliche Krisen und den aktuellen politischen Ereignissen, aber auch durch eine nicht verarbeitete Vergangenheit. . Motiviert durch persönlichen Geschichten über Angst aus dem Leben der Moderatoren Arman und Jelena nimmt das Publikum auf freiwilliger Basis an diesem Prozess teil. Das heißt es gibt eigentlich kein Publikum. Die Gäste teilen miteinander ihre Änsgte in Form von Geschichten, die zu meißt auf Erfahrungen in der Vergangenheit beruhen. Sie unterstützen sich dabei, indem sie einander zu hören und motiviert durch die Geschichte des anderen eigene erzählen und so Anteil an dem Schicksal des anderen nehmen. Das besondere an dieser Arbeit ist, dass eine Person auf einem Stuhl im Kreis sitzt und jeder sich zu ihm in den Kreis setzen kann, was immer nur durch freiwilliges Verlangen geschieht. So werden die Gäste gleichzeitig zu Autoren, Regisseuren und Darstellern des Abends. Anstatt, dass viele Personen im Theater der Tragödie eines einzelnen zuschauen, arbeiten hier alle um einem Menschen in seiner Geschichte über die Angst durch ihre Teilnahme zu unterstützen. Für mich ist dieses Projekt eine interaktive Form des Gedächtnisdramas, die persönliche wie politische Traumata miteinander verbindet und die Möglichkeit gibt mit diesen zu arbeiten. König Lear Als bewusst letzte Aktion des Joseph Beuys Theater habe ich im November 2013 eine Dokumentartheaterprojekt über einen 82jährigen Schauspieler gemacht, der vergessen in einem Altenheim in Moskau lebt, seit dreißig Jahren mit sich allein den „König Lear“ probt und dessen beide Leben erstaunliche Parallelen aufweisen: “Lear probt den Tod”. In der Inszenierung vergleicht er sein Leben mit dem von “Lear” und gibt uns dabei tiefe Einblicke in seine Biographie und sein Seelenleben. Der Text ist die erschüttertende Bekenntniß einer Lebenstragödie, einem Leben ohne das Gefühl Liebe je kennengelernt zu haben und erzählt gleichzeitig die Realität und Geschichte Russlands von 1950 bis heute. Es ist ein Kampf um die Erinnerung an die persönliche Geschichte und die der Epoche. An vieles versuchte sich unser Protagonist nicht zu erinnern, es zu verdrängen oder zu verfälschen um in eine genehme Erinnerung umzumodelieren. Der zweiundachtzigjährige Protagonist zeichnete seine Proben und Gedanken zu König Lear seit einigen Jahren mit Hilfe eines IPads auf. Diese persönlichen Filme wurden Teil der Inszenierung. Genauso wie ein Dokumentarfilm über die Reise unseres Helden an sein eigenes Grab. In Kaliningrad auf dem Friedhof neben dem Grab seiner Mutter, hat unser Protagonist sich und seinem gewünschten Alter Ego König Lear ein gemeinsames Grab gebaut. Bald will er seine Familie an dieses Grab einladen. Diese sollen dort vor seinem Grab auf Knien ihn für den jahrzehnte langen Verrat und Betrug an ihm um Verzeihung bitten. Sonst wird er sie enterben. Die Inszenierung stellt die Realität nicht dar, sondern organisiert sie neu. Sie ist eine Ausstellung realer Dinge aus dem aktuellen Leben und der Vergangenheit des alten Schauspielers, in der sogar er selbst als Exponat teilnimmt und zum Schluss mit dem Publikum eine interaktive Handlung vollzieht. Er war über 20 Jahre nicht mehr auf der Bühne. so dass dieses Projekt eine Möglichkeit war ihm zu helfen, seinen Lebenswunsch, einmal den König Lear zu spielen, zu realisieren. “Das Joseph Beuys Theater selbst wurde dabei zu König Lear”, wie es der Moskauer Kurator und Kunstkritiker Vitali Patzjukov ausdrückte. Und er hat Recht : in meiner letzten Arbeit in Moskau, intensivierte ich den Versuch, die Vielschichtigkeit der sogenannten Realität herauszuarbeiten, indem Darstellung und „Realaktion“ ineinander übergingen und damit allen, auch und gerade dem Protagonisten (Lear / Der alte Mann), ein Entwicklungsprozess eröffnet wurde. “Lear probt den Tod” wurde 2014 im Russian Case Programm der Goldenen Maske in Mosaku vorgestellt. Gedächtnisdrama war ein wesentlicher Teil des Programms von den Projekten Joseph Beuys Theater und Demokratie.doc. Das Joseph Beuys Theater war bewust ein Projekt in und für Russland. Für Joseph Beuys war die Verbindung zwischen Ost und West eine Arbeitsfrage der Kunst zur Heilung der Welt, wie er es deutlich in seinem gemeinsam mit Wilfried Heidt erarbeitetem Aufsatz 1978 in der Frankfurter Rundschau “Aufruf zur Alternative” ausgedrückt hat. Inzwischen ist diese Verbindung auf der politischen Ebene zu einer Perversion mutiert, indem in Russland ein unmenschlicher Kapitalismus aus den Überresten eines totalitären kommunistischen Staates entstanden ist und sich beide Systeme zu einer zerstörerischen Symbiose verbündet haben. Der neue Widerstand gegen den totalitären Staat in Russland darf nicht den Weg der Gewalt gehen, sonst gleichen wir zu sehr denen, die sie anwenden. Eine freie Gesellschaft kann nur durch gewaltfreie Transformation geschaffen werden. Frei durch schöpferische Gestaltung, die ganz eigenständig sein wird. Keine Kopie der westlichen Welt. Ich denke, dass Joseph Beuys hier wesentliche Impulse geben kann. Unsere beste Waffe ist unsere Bewusstseinsentwicklung, unsere Kreativität. Darum war es für mich wichtig, das „Joseph Beuys Theater“ in Russland zu gründen, besonders auch vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen oder parallelen Vergangenheit, die wir in dem Projekt Gedächtnisdrama bearbeiteten um überhaupt einen Blick für die Realität zu bekommen und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Das durch diese Idee auf Russland konzipierte Joseph Beuys Theater endete mit dem Projekt “Lear probt den Tod”. Demokratie.doc arbeitet weiter und geht auf Reisen. In Bulgarien, Polen, Ukraine, Deutschland und Amerika werden die nächsten Jahre Projekte folgen.